Flingern – Düsseldorf-DNA zwischen Tradition und Moderne
Ob Kö, Rheinturm oder Gehry-Bauten – repräsentative Aushängeschilder mit weltbürgerlichem Anstrich sind häufig die ersten Assoziationen, die Auswärtige und Zugezogene zu Düsseldorf haben. Wer aber die lokale DNA der Landeshauptstadt ernsthaft kennenlernen möchte, sieht sich am besten im Stadtteil Flingern genauer um.
Der Stadtbezirk Flingern ist ursprünglich als klassisches Arbeiterviertel entstanden und befindet sich heute in einem Transformationsprozess zwischen Tradition und Moderne. Die S-Bahn-Linie bildet gewissermaßen die Grenze zwischen Nord- und Südflingern und damit auch die fühlbare Schwelle zu den zwei ganz eigenen Welten, die diese Stadtteile darstellen.
Altstadtcharme im Arbeiterblock
Wer spontan durch Flingern-Nord schlendert, merkt dem Stadtteil auf den ersten Blick seinen eigenen Charme an: gepflasterte Straßen und Altbauten, gesäumt von massiven Bäumen und zierlichen Beeten. Immer wieder entdeckt man Lichterketten, Fähnchen und zwanglose Sitzgelegenheiten. Wenn die Sonne tief steht und durch die verwinkelten Straßenzüge strahlt, hat Flingern-Nord fast etwas Verwunschenes – ein Viertel, in dem sich die Leute Zeit und Gelassenheit nehmen wollen und sollen. Ein Ort, um zu bleiben.
Der zweite Blick auf und hinter die Fassaden macht die progressive Energie im gesamten Stadtteil spürbar. Besonders wenn es um Individualisierung, Selbstverwirklichung und Genuss geht, ist Flingern eine Gegend, die sich dem Zeitgeist ambitionierter, junger Men-schen anpasst, ohne ihr eigene Bodenständigkeit zu verlieren.
Für feine Gaumen und raue Kehlen
Für sonntägliche Lauschigkeit stehen Cafés wie Oma Erika, Café Rekord, das Hüftgold oder auch die Flurklinik, die als ehemaliges Kinderkrankenhaus nur einer von vielen Anlaufpunkten mit offensichtlicher stadtgeschichtlicher Tragweite ist. Doch auch auf feuchtfröhliche Abende ist Flingern vorbereitet: Für die rustikalen Stunden lädt das Zum Goldenen Fass zu einem kalten Glas Füchsen-Alt oder einer Runde Darts ein. Sport-Stammtische und lokale Originale finden sich darüber hinaus in Manni’s Treff, der Flurschänke oder der XXL Kleine Kneipe. Wer dem Fassbier und der Eckbank das unbeschwerte Glas Wein vorzieht, ist in der Lotte, bei Chez Olivier oder im Bistro Fatal gut aufgehoben.
Wenn Appetit aufkommt, wird in Flingern kulinarisch, preislich und atmosphärisch jeder fündig: Vom schnellen Happen auf die Hand im Pablos über abwechslungsreiche Mittagstische in der alten Metzgerei oder im Schmalbauch bis hin zu feiner Pâtisserie in der Barré Cuisine – dazwischen überzeugt Flingern in diversen gastronomischen Spielarten.
Der Mensch steht im Vordergrund
Eine Besonderheit in Flingern ist das Café Drrüsch, das im Grunde viel mehr ist als lediglich ein Ort für Kaffeeliebhaber. Der Name Drrüsch bedeutet auf Plattdeutsch „trocken“ und ist in diesem Falle Programm: Hier wird eine ausschließlich alkoholfreie Karte angeboten, denn die Einrichtung, die in Wirklichkeit Café, Bar, Eventlocation, Tagungsort und Sitz der Diakonie ist, setzt sich in besonderem Maße für die Suchtprävention und Beratung von gesundheitlich und sozial belasteten Menschen ein. Hier manifestiert sich Flingerns eigen-tümliche harmonieorientierte Seite und heißt an diesem Ort im Sinne der gelebten Nächstenliebe jeden willkommen.
Hier nimmt man sich noch Zeit
Die für Flingern sinnbildlichen individualistischen Züge des Stadtteils schafft zum Großteil die ambitionierte und kreative Bohème, die sich an vielen Straßenecken mit kleinen, liebevoll gestalteten Geschäften verwirklicht. Diese bieten die Chance, sich Muse für die kleinen Dinge des Lebens einzuräumen. Ob Bastel-, Musik-, Handwerks- und Dekorationsangebote oder Blumen- und Babyläden oder aber Klamotten von Secondhand-Mode bis zu kleinen Designern – in Flingern werden vor allem expeditive aber auch ökologiebewusste junge Menschen angesprochen.
Von Hexen und Vampiren – der Mythos Flingern
„Aus alt mach neu“ – heißt nicht selten das Motto in Flingern. Ehemalige Handwerks- und Manufakturbetriebe werden zu Kunstwertstätten oder Ausstellungsorten umfunktioniert. Sie wirken als Industriedenkmal in neuer Funktion, indem sie Entstehungs- und Präsentationsfläche für die kreativen Ergüsse lokaler Schöpfer sind. Das womöglich berühmteste und schillerndste Beispiel ist das Atelier der sogenannten Kö-Hexe, der 2020 verstorbenen Künstlerin Angela Spook, die es sich zu eigen machte, ihre Botschaften in Gestalt einer Hexe auf der Königsallee zu verkörpern. Ihr Atelier in einem Hinterhof auf der Ackerstraße wird weitergeführt und ist das spannende, zugängliche Vermächtnis der Tausendsassarin.
Vom Stichwort „Hexe“ gelangt man in Flingern zwangsläufig auf das Thema „Mythen und Legenden“, das in diesem Stadtteil an vielen Stellen gegenwärtig ist: Sei es die Legende des vom zu Lebzeiten in Flingern wohnhaften Massenmörders Peter Kürten, dem Vampir von Düsseldorf, oder aber der Mythos Fortuna, der sich in der Verbundenheit zum Fußballverein durch Fankneipen, Fahnen, Graffitis oder das alte Paul-Jahnes-Stadion zeigt. Allgemein spielt der Sport in Flingern seit jeher eine entscheidende Rolle. Aus seiner Arbeitervergan-genheit sind in Flingern viele Sportvereine und Betätigungsmöglichkeiten hervorgegangen, die heute nicht mehr zwingend in erster Linie Leistungs- und Wettkampfstätten, sondern mehr breitensportliche Ertüchtigungsmöglichkeiten mit Blick auf die Teilhabe jeder Couleur ist. Boxbuden, Sportplätze, Schwimmbäder, „Kneipensportarten“, Fußball, Klettern und Fitness – Flingern stand und steht für Tatendrang und beherztes Anpacken.
Harte Schale, weicher Kern
Ein besonderes Flair haben die vielfältigen Syntheseeffekte in Flingern, wie z.B. die Bewahrung und Weiterentwicklung industrieller Anlagen, durch Begrünung, Verkehrsberuhigung, Umbau zu Wohnraum oder Eröffnungen nachhaltiger Kaffeeröstereien. So z.B. die Rösterei Schvarz, die im Kontrastfeld zwischen geschäftigen Hauptstraßen und malerischen Klein-gärtenanlagen beheimatet ist.
Die traditionelle, gesellschaftspolitische Seite des progressiven Flingern, samt seiner Geschichte der Solidarität mit dem „kleinen Mann“, ist erfahrbar auf der Kiefernstraße, einem Relikt der linken Besetzerszene der 80er Jahre. Ehemalige Besetzer:innen leben heutzutage in normalen Mietverhältnissen aber nach wie vor in und um bunt gestaltete Häuser und Bauwagen. Das Soziale ist hier allgegenwärtig: Suchthilfen, soziales Wohnen, Kinder- und Jugendclubs sowie das alternative Veranstaltungszentrum ZAKK bilden zusammen an der Fichten- und Erkrather Straße eines der vielseitigen Gesichter des südlichen Teils Flingerns.
Flingern ist vor allem ein Gefühl
Flingern ist nicht dieses eine entscheidende Ding. Flingern ist schwer zu fassen, weil es für Vielfalt steht, weil es für die Welt zwischen Bewahren und Neuschöpfen steht, weil es den Performern und den Genügsamen gerecht wird, weil es die Modernen und Traditionellen zusammenbringt. Aber Flingern steht vor allem für Offenheit, für Atmosphäre und für Mühe. Und es eint die Menschen in einem Punkt bei aller Individualität und allen persönlichen Belangen von Arm und Reich oder Jung und Alt: Die Identifikation mit einem aufrichtigen, authentischen Teil Düsseldorfs.
Text: Dennis Schiffer